Im Park Pobedy – Park des Sieges – ist uns Viktor entgegengekommen (Foto unten). Er trug Uniform, ein Soldatenkäppi, ein Lächeln zierte sein Gesicht. In der Hand hielt er eine Tafel mit dem Porträt seines Onkels, Michail M. Tokarew. Dieser war mit der Roten Armee vor genau 80 Jahren bis Berlin marschiert, wie uns Viktor berichtete. Als er heimkehrte, fehlte ihm eine Hand – doch er lebte und war ein Sieger.
Ein Gespräch mit Sergej und seiner Schwester unmittelbar vor der Begegnung mit Viktor dämpfte unsere feierliche Stimmung. Die beiden saßen auf einer Bank, beobachteten die Menschen, die ebenfalls zum Gedenken gekommen waren, und hielten neben der russischen die Siegesfahne sowie ein Foto auf einem Schild. Die Schwester war zum ersten Mal zum Tag des Sieges, zu diesem runden Datum, aus Kasachstan nach Moskau gekommen. Serjoscha – so sprach ihn seine Schwester liebevoll an – führte das Foto seines Großvaters für das „Unsterbliche Regiment“ auf dem Poklonnaja Gora (Berg der Verehrung) mit sich, obwohl die offizielle Veranstaltung dieses Mal (wieder) ausfiel. Der Großvater sei auf dem Gebiet der Ukraine als Partisan vermisst gemeldet, im Ersten Weltkrieg habe er auch gekämpft. Die Familie habe die Hoffnung bis heute nicht aufgegeben, dass sie Spuren von ihm finden werden, sagte uns der Mann mittleren Alters.
Seine Frau, so erzählte er uns auf Russisch, stamme aus dem Donbass und sei vor zehn Jahren nach Russland geflohen, wo sie eine Tochter bekamen. Doch nun leben Frau und Tochter als Flüchtlinge in Deutschland, und Sergej hat sie seit mehreren Jahren nicht gesehen. Der Park des Sieges wurde zum Schauplatz einer schmerzhaften Offenbarung: Beim Gespräch mit den Geschwistern erkannten wir die tiefe Verbundenheit mit Deutschland und die tragische Verflechtung der Menschen in der Ukraine, Russland und der ehemaligen Sowjetunion. Vergangenheit und Gegenwart flossen ineinander, als würden die unaufhörlich strömenden Menschen die Grenzen bewusst verwischen. Die Bedeutung der Erinnerung bekommt heute eine neue Dimension, das war überall zu spüren. „Вот что значит война“ (Das bedeutet also Krieg), sagte Sergej verbittert und zeigte uns die Fotos seiner Lieben auf dem Handy.
Sergej reagierte heftig und mit Unverständnis, als wir sagten, wo wir herkommen. „Warum verhält sich Deutschland so? Wir hatten doch gute Beziehungen“, sagte er. „Deutschland hat sich selbst zum Feind gemacht.“ Mir schien, dass er selbst darüber verwirrt war, was er gerade gesagt hatte. Sergej hat mit schweren, doch schlichten Worten auf den Punkt gebracht, was seit Jahren in Deutschland geschieht, und mich zutiefst berührt. So gesehen scheint die so törichte Befürchtung der deutschen und europäischen Eliten, Russland werde Europa überfallen, nicht mehr ganz so surrealistisch.
Ich bin mit Tilo Gräser, meinem Freund und Kollegen, zum 9. Mai nach Moskau gefahren – ein Grund war, nicht erleben zu müssen, was in Deutschland die Menschen erleiden, die an den Tag des Sieges über Nazideutschland aus russischer Sicht oder den Tag der Befreiung aus deutscher Sicht denken wollen. Ausgelassene Feierlaune war natürlich auch in Moskau nicht zu erwarten – der Anlass ist einfach zu ernst. Trotz der Aussage eines TV-Journalisten, der uns vor einem Jahr auf dem Piskarjowskoje Friedhof in Sankt Petersburg erklärte, die Russen hätten mit der Vergangenheit ihren Frieden geschlossen und würden am 9. Mai das Leben feiern, indem sie des Großen Vaterländischen Krieges gedenken.
So mischten wir uns im Park Pobedy unter die Menschen, die durch die lange Reihe von Sicherheitskontrollen auf den Poklonnaja Gora gelangt sind. Seit Tagen hing schon Spannung in der Luft. Polizisten und Angehörige der Spezialeinheit OMON mit Hunden und Maschinenpistolen bildeten den Hintergrund zu der Menge der Menschen, die an diesem Nachmittag gekommen waren, um mit den anderen zusammen an den Sieg zu erinnern – aber nicht nur an den Sieg, sondern an die unvorstellbaren Verluste und das Leiden, dass ihnen zugefügt wurde. Von der Bühne hörten wir die Ansage, dass eine Schweigeminute kommt. In erhabener Stimmung folgte dann das Requiem von Robert Roschdestwenskij – ein Gedicht, das in Russland jeder kennt und das bei vielen mit Gänsehaut einhergeht. Darin fleht der Dichter die Menschen an, an den Krieg zu erinnern, den Kindern davon zu erzählen und den Krieg zu töten und zu verfluchen:
Durch Jahrhunderte, durch Jahre – erinnert euch! An diejenigen, die nie wiederkommen werden – erinnert euch!
Der 9. Mai ist in Russland ohne das kraftvolle Lied „Tag des Sieges“, das dieses Jahr ein halbes Jahrhundert alt geworden ist, nicht denkbar. „Das ist eine Feier, mit Tränen in Augen“, klang von der Bühne die berühmteste Zeile, gesungen vom Chor der russischen Raketen- und Kosmos-Streitkräfte. Tatsächlich haben wir viele Tränen in diesen Tagen gesehen – Tränen der Trauer, der Erinnerung, ob des Verlustes, aber auch ob der Fassungslosigkeit. Die Fassungslosigkeit darüber, was heute geschieht. Darüber, wie Russland missverstanden wird und wie schnell Europa Russland wieder die kalte Schulter zeigt. So interpretiere ich es zumindest, was wir erlebt haben.
Beim Abschied betonte Sergej, es hänge von Deutschland ab, wie die Russen nach Deutschland kommen würden. „Wenn nicht als Freund, dann als Feind“, wiederholte er nachdrücklich. Seine Emotionen waren eindringlich. Welch eine Verkennung der Menschen und Überheblichkeit aus Unkenntnis – hatte doch eine Frau im Deutschlandradio behauptet, es sei typisch für Sowjetmenschen und ihre Vorfahren, kaum Gefühle zeigen zu können …
Häufig berichten Menschen, die nach Russland gefahren sind – Sie wissen schon: die „Versteher“, „Kremlpropagandisten“, verblendeten Ossis, Rückwärtsgewandten, Ostalgiker, Sehnsüchtigen nach Autokratie –, dass die Russen keinerlei Ressentiments gegenüber Deutschen hegen würden. Sie hätten ihren Frieden mit der Geschichte gemacht und können sehr gut zwischen Politik und Menschen unterscheiden.
Sergejs Stimme bildete dazu den Kontrapunkt. Bemerkenswert ist, dass seine Schwester das Gespräch abrupt beendete und ihn mitsamt seinem Foto wegzog. Offenbar schämte sie sich für seinen Ausbruch ehrlicher Gefühle, denn schließlich sind wir Gäste Russlands, und die russische Gastfreundschaft erlaubt solche Unmutsäußerungen nicht.
Die Anspannung hing seit einigen Tagen in der Luft. Dass die Moskauer Flughäfen von Drohnenangriffen aus der Ukraine lahmgelegt wurden, war zwar für die Betroffenen eine quälende Erfahrung – auch für einige Deutsche, die von dort nach Wolgograd weiterfahren wollten, wo der Flughafen gerade nach Stalingrad umbenannt wurde, dem im Zweiten Weltkrieg traurig berühmt gewordenen Namen der Stadt. Nur noch ein paar Stunden fehlten bis zum heiß erwarteten Feuerwerk, dem „Salut“, das trotz erheblicher Sicherheitsmaßnamen wegen anhaltenden Drohungen aus der Ukraine stattfand.
Einige Tage waren die Internetverbindung und das Telefonnetz aus Sicherheitsgründen mehrmals unterbrochen. Das störte anscheinend keinen. Die Supermärkte waren auch am größten Feiertag offen, und viele mussten arbeiten, damit die Stadt funktioniert. Als Gäste der Hauptstadt wurden wir von den Menschen reichlich beschenkt – mit Lächeln, mit Freundlichkeit, aber auch mit Gästerabatt in den Supermärkten und im Schokoladenladen „Aljonka“, der zur einstigen Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ gehört. Von offizieller Stelle, da wir akkreditiert wurden, erhielten wir Statuen des Sieges und kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel in Moskau während unseres gesamten Aufenthalts.
Aber eines der schönsten Geschenke, wenn nicht das schönste überhaupt war, dass wir an diesen Tagen Zeit mit unseren russischen Bekannten, Freunden und Kollegen in ihrer Heimat verbringen konnten. Aber auch mit Sympathisanten von Russland und nicht zuletzt mit unserem neuen Freund Viktor und seiner Familie in Zelenograd. Viktor mit dem Soldatenkäppi erzählte, dass für ihn wichtig sei, die Erinnerung an die Helden zu hegen und zu pflegen. Deswegen hat er auch seinen Uniform angezogen. Als er erfuhr, dass wir aus Deutschland kommen, teilte er uns mit, dass er dort mehrere Brüder hat. Einen in Berlin, wo wir wohnen. Er konnte kaum aufzuhören zu reden.
Vorsichtig sprach ich Menschen in Moskau an, denn in Sankt Petersburg hatten wir ein Jahr zuvor gelernt: Sobald Politik zur Sprache kam oder man uns als Journalisten erkannte, war die Geselligkeit vorbei. Über Belangloses konnten wir weiterreden, doch politische Themen waren tabu. Diesmal war es ganz anders: Niemand scheute das Gespräch, selbst über die Ukraine und Putin. Die Menschen sprachen offen und aufgeschlossen und wollten ihrerseits wissen, was mit Deutschland geschieht. Viktor marschierte dann weiter Richtung Zelenograd – seinem Wohnort seit über 25 Jahren. Genau dort, wo die Wehrmacht 1941 von der Roten Armee gestoppt wurde, sahen wir das Brüdergrab – ein Massengrab für die gefallenen Soldaten. Wir erfuhren auch, was dieses Grab in Zelenograd mit dem Grab des unbekannten Soldaten und seinem ewigen Feuer am Kreml verbindet. All dies enthüllte uns Viktor, der Unbekannte, der uns nach nur 20 Minuten zu sich einlud. Doch davon ein andermal mehr.
Éva Péli ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunktthemen aus Mittel- und Osteuropa, schreibt unter anderem für die nachdenkseiten, das Magazin Hintergrund und das ungarische Fachportal für den postsowjetischen Raum moszkvater.com.
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